Majorin Barbara (Major Barbara) von Bernard Shaw

Majorin Barbara

 

Bernard Shaw ist tot – seine Bühnenstücke leben fort

1909 schrieb englischer Schriftsteller und Journalist Gilbert Keith Chesterton über Majorin Barbara: „ Fast jedes Bühnenstück von Shaw ist ein erweitertes Epigramm. Aber das Epigramm wird (wie bei den meisten Menschen der Fall ist) nicht auf Hundert Gemeinplätze erweitert. Vielmehr wird das Epigramm auf Hundert anderer Epigramme erweitert. Diese Erweiterung ist in allen Einzelheiten genauso brillant wie im Design. Aber es ist prinzipiell jedoch möglich, das ursprüngliche und zentrale Epigramm zu entdecken, das das Zentrum und den Zweck des Stücks darstellt. Auch unter blendenden Schmuckstücken Millionen Witzen ist es prinzipiell möglich, den schärfsten Spott und den tiefsten Sinn zu entdecken, weshalb das Stück geschrieben wurde.“

Darum greifen Fake News Majorin Barbara und Dramatiker Shaw an

Sogar wenn Entdeckungsgeist vorhanden ist, scheitert seine Ausführung oft an der menschlichen Schwäche. Nach dem bekannten Glockenton beginnt der Speichel dem Pawlowschen Hund zu fließen. Lesen wir manche Beurteilungen künstlerischer Leistungen von Bernard Shaw, entsteht oft der Eindruck, dass sein Name bei manchen Chesterton’s Berufskollegen auch eine bedingte Reaktion auslöst. Es wird reflexartig suggeriert: Irgendwas stimmt nicht mit dem Literaturnobelpreisträger und seinen Bühnenstücken. Die Liste ist lang und langweilig. Zur Erinnerung: Majorin Barbara ist wohl eines der wenigsten Theaterstücke überhaupt, das fragwürdige Rüstungsgeschäfte im Visier hat, und zwar seit seiner Uraufführung 1905. Trotzdem wiederholt sich immer wieder das gleiche Verhaltensmuster: Fake News greifen Majorin Barbara und Dramatiker Shaw an, weil ihre Verfasser lustlos sind und nicht die Eier haben, um gegen Waffenexporte Stellung zu beziehen. Der Dramatiker kann sich nicht gegen Fake News wehren, weil er 1950 verstarb. Trotz aller Widrigkeiten lassen denkende Menschen sich weder suggerieren noch bevormunden, da sie erkennen, dass Shaw über Probleme schrieb und Fragen stellte, die nach einem Jahrhundert großenteils immer noch ungelöst und unbeantwortet sind. Also, wenn der Name Shaw fällt, suchen wir nach den Antworten: Wieso hat sich nicht viel geändert? Ist es fair, George Bernard Shaw dafür verantwortlich zu machen und wie in der griechischen Mythologie dem Überbringer schlechter Nachrichten und Fragesteller den schwarzen Peter zuzuschieben? Was ist mit unseren Zeitgenossen? Sind sie weiter? Sind sie über Majorin Barbara eigentlich hinaus?

Eine nette Familie

Eine nette englische Familie – ihre Staatsangehörigkeit könnte austauschbar sein – genoss das Leben in einem mehrstöckigen Haus im Londoner Zentrum. Fünfzigjährige, alleinerziehende, adelige Lady Britomart Undershaft hat drei Kinder: Stephan, Barbara und Sarah. Eines Tages lud die Mutter ihren bürgerlichen Ex Andrew ein. Wegen Streitigkeit moralischer Natur lebten sie getrennt. Andrew Undershaft hat seine Familie seit mehreren Jahren nicht gesehen. Er war beruflich ein Waffenfabrikant und unterhaltspflichtig, zumal er der einzige Erwerbstätige war. Seine Kinder erlangten die Ehemündigkeit, fortan fanden die Töchter heiratswilligen Männer. Aber weil ihre Verlobten Adolphus Cusins respektive Charles Lomax nicht flüssig waren, brauchten Barbara und Sarah Geld für ihre eigenen Häuser und sonstige Bedürfnisse. Das war Mutti’s Businessplan und der Grund für die Einladung.

Vater, der Waffenhändler

Der vorsorgliche Vater freute sich auf das Wiedersehen und erklärte sich netterweise bereit, das nötige Geld zuzuschießen. Kriegswaffen herzustellen und zu verkaufen, war anscheinend ein lukratives Geschäft. Sein Familienunternehmen existierte schon in der achten Generation. Andrew Undershaft hielt nicht viel von einer restriktiven Rüstungsexportpolitik. Gegenteilig war seine flexible Vertriebspolitik der Bestandteil des Erfolges. Sie bestand darin, keine Rücksicht weder auf Persönlichkeit der potenziellen Käufer noch auf ihre Prinzipien zu nehmen und hergestellte Rüstungsgüter an alle, zu allen Zahlungs- und Lieferungsbedingungen, abzusetzen, die einen guten Preis anbieten. Er verkaufte seine Waffen sowohl für eine gerechte Sache als auch für eine schwere Straftat, und zwar an Aristokraten und Republikaner, an Nihilisten und den Zaren, an Kapitalisten und Sozialisten, an Protestanten und Katholiken, an Einbrecher und Polizisten, an Schwarzen, Weißen und Gelben; an Personen aller Nationalitäten, aller Glaubensrichtungen, aller Verrücktheiten.

Eine Tochter, die Heilsarmee Majorin

Der Waffenhändler war nicht besonders religiös: „Ich bin ein Millionär. Das ist meine Religion, liebe Tochter.“ Trotzdem kam er mit Barbara nahe, die eine Heilsarmee-Mitarbeiterin war. Die Heilsarmee ist eine militärisch strukturierte Freikirche mit dem Schwerpunkt Sozialarbeit und christliche Verkündigung. Effizient und effektiv bekehrte Barbara viele Menschen zu einer Sinnesänderung und zum Christentum, folglich wurde ihre Arbeit sehr geschätzt. Sie bekam nach einer kurzen Zeit ausnahmsweise einen Offiziersrang Majorin, den man in der Heilsarmee gemäß den Regelungen nur nach 20 Dienstjahren bekommen darf. Feuer und Flamme für Heilsarmee, wurde Barbara von ihrem Vater mit seiner Spendenaffäre im übertragenen Sinne geköpft: Nachdem ihre Leitung große Geldspenden von dem Waffenhändler und einem Whiskyhersteller angenommen hat, sah sie sich gezwungen, freiwillig zurückzutreten. Eine edle Seele war offen mit ihrem Vater: „An Ihren Händen klebt ein böses Blut und nur ein gutes Blut kann sie reinwaschen. Das Geld nützt nichts.“

Die andere Tochter, die Heilige

Wie die Leidensgeschichte Majorin Barbara’s religiöser Prototyp zeigt, ist die Vater-Tochter-Bezie- hung für das Leben und Tod einer jungen Frau häufig prägend. Die frühchristliche Nothelferin Barbara von Nikomedien wurde der Überlieferung zufolge von ihrem Vater Dioscuros, einem reichen Kaufmann, im wahrsten Sinne enthauptet, weil sie sich zum Christentum bekehrte. Barbara starb den Märtyrertod. Am 4. Dezember, dem Barbaratag gedenken wir der Märtyrerin, Heilige und Schutzpatronin.

Das Happy End

Andrew Undershaft plante die Unternehmensübergabe aus Altersgründen. Traditionelle Nachfolgeregelung sah vor, dass er seine Waffenfabriken nur an einen Findling übergeben durfte. Deswegen konnte (auch wollte) der Waffenfabrikant nicht seinen leiblichen Sohn zu seinem Erben einsetzen. Dadurch war seine Ex-Frau Lady Britomart Undershaft über die Maßen verärgert. Eines Tages machte die ganze Familie samt Verlobten einen Ausflug nach betriebseigener Werkssiedlung St. Andrews, die 15 km. westlich vom Bahnhof Charing Cross befand. Die schöne Arbeiterkolonie hat die Besucher fröhlich gestimmt. Und da macht der Waffenhändler dem Barbara’s Verlobten Professor für Altgriechisch Adolphus Cusins ein Angebot, das er nicht abschlagen konnte, nämlich in seine Fußstapfen zu treten. Der Hellenist nahm das Angebot des Prinzen der Finsternis, wie er den zukünftigen Schwiegervater metaphorisch nannte, dankend an. Der Generationenwechsel wurde erfolgreich vollzogen. Barbara begab sich gleich auf der Suche nach einem Eigenheim und ist voller Hoffnung, ihre Seelenrettung in der Arbeiterkolonie fortzusetzen. Die Familiengeschichte hat happyendet.

„Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce“, meinte Shaw’s Zeitgenosse, bekannter Philosoph und Gesellschaftstheoretiker. Unsere Geschichte erweitert sich auf mehrere Geschichten: über die beiden Barbaras, ihre Väter, Bernard Shaw und Fakes News. Vor hundert Jahren wurde Shaw wegen persönlicher Ambivalenz attackiert, heute wegen besonderer Aktualität seiner Theaterstücke.